-cp- Der Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink stand lange unbeachtet in meinem Bücherregal. Was genau mich davon abgehalten hat, ihn zu lesen, weiß ich nicht. Aber im Zuge meiner literarischen Versprechung war dieses Buch nun mal fällig.
In der zweiten Hälfte der 50er Jahre lernt der 15-jährige Schüler Michael die 20 Jahre ältere Straßenbahnschaffnerin Hanna kennen. Zwischen den beiden entflammt eine leidenschaftliche Beziehung, die von festen Ritualen geprägt ist, zu denen neben dem Baden und den Liebesspielen auch das Vorlesen gehört. Michael liest Hanna verschiedene bedeutende Bücher vor. Eines Tages verschwindet Hanna spurlos. Jahre später sieht Michael sie wieder. Er ist Jura-Student, und sie gehört zu den Angeklagten eines Auschwitz-Prozesses. Michael, der den Prozess als Beobachter anschaut, gerät ins Grübeln darüber, welche moralische Verantwortung der einzelne hat, und wie er persönlich Hanna beurteilen soll: als seine erste große Liebe oder KZ-Aufseherin.
Zu Beginn des Romans war ich mehr als skeptisch. Es erschien mir wieder mal eine Geschichte zu sein, in der das Thema Sex-Beziehung einer jugendlichen mit einer erwachsenen Person im Mittelpunkt steht. Ich fand diesen Teil des Buches zwar gut geschrieben und die Figuren großartig angelegt, aber der Sinn der Geschichte hat sich mir nicht mitgeteilt. Dies änderte sich im Mittelteil des Romans, als es um den Prozess geht und die Sex-Beziehung der Vergangenheit auf einmal ein Schlüssel zum Verständnis der Figuren wird. Der Roman ist großartig geschrieben und kein typisches Nazizeit-Aufarbeitungs-Buch, weil es mehr um die Figuren und ihr persönliches Schicksal geht als um die Darstellung der düsteren Epoche. Auch, wenn der Begriff inflationär benutzt wird: Ein Meisterwerk!