Freitag, 26. September 2008

Neues aus dem Münsterland ODER Hobbit von einem grausamen Verdacht reingewaschen

-cp- Es ist knapp zwei Monate her, dass wir über einen abscheulichen Fall von Jugend- oder eventuell auch Hobbitkriminalität berichteten. Wie die unermüdliche Redaktion von "Kategorie: Vermischtes" soeben erfahren hat, haben die Ermittlungen der Polizei zu einem eindeutigen Ergebnis geführt: Der Hobbit ist unschuldig. Hinter der ganzen Sache steckt eine tragische oder wahlweise auch langweilige Geschichte, je nachdem, welcher Privatsender sie bearbeitet oder auch nicht: Es gab gar kein Verbrechen. Die Geschichte war ausgedacht. Und nicht nur die. Auch eine 20-Jährige aus Selm hat sich ein Verbrechen ausgedacht, das an ihr verübt worden sein soll, nämlich eine Entführung. Wer letztere Geschichte genau liest, wird feststellen, dass die Lokalredaktion der Westfälischen Nachrichten nicht so genau wusste, ob Olfen nun zum Kreis Coesfeld oder zum Kreis Borken gehörte. Liegt zwar beides im Münsterland, richtig ist jedoch Kreis Coesfeld.

Wie dem auch sei: Sowohl Olfen als auch Rheine, wo die erste Geschichte spielte, gehören zum Münsterland. Jetzt stellt sich die Frage: Sind die Menschen im Münsterland so dumm, dass sie nich wissen, dass das Vortäuschen einer Straftat auch eine Straftat ist? Oder ist den Menschen im Münsterland so langweilig, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als ihren Alltag durch derlei Zeug etwas zu pimpen. Apropos "Bekämpfung der Langeweile": Da habe ich letztens, und das ist keine erfundene Geschichte, von einem Mann gehört, der ebenfalls in einer Kleinstadt im Münsterland lebt. Der hat mit seiner Frau neun Kinder gezeugt und mit seiner Nachbarin fünf. Was sagt man dazu? Ganz einfach: Kaffeeklatsch im Jugendamt ersetzt das Abo einer (lokalen) Tageszeitung.

Samstag, 20. September 2008

Charles Dickens' "A Christmas Carol" - Märchen oder nicht?

Die Geschichte um den geldgierigen Ebenezer Scrooge, der es am Weihnachtsabend mit drei Geistern zu tun bekommt, gehört wohl neben der Geschichte um die Geburt Jesu aus dem Neuen Testament und neben "Hilfe, die Herdmanns kommen" von Barbara Robinson zu den bekanntesten Weihnachtsgeschichten. Interessant ist, dass die verschiedenen Umsetzungen der Geschichte von Charles Dickens in Deutschland unter sehr unterschiedlichen Namen zu finden ist. Der eigentliche Titel ("Ein Weihnachtslied" oder auch "Ein Weihnachtslied in Prosa") wird ziemlich selten verwendet. Meist ist einfach von der "Weihnachtsgeschichte" oder dem "Weihnachtsmärchen" die Rede, was zu einer interessanten Frage führt:

Ist Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte ein Märchen?

Es gibt einiges was dafür, allerdings auch vieles was dagegen spricht, und letztlich ist ja nicht nur die literaturwissenschaftlich korrekte Einordnung, sondern auch das subjektive Empfinden der Leser wichtig. Sicherlich hat "A Christmas Carol" viele Elemente des Kunstmärchens, die man auch bei Andersen findet: die Schilderung von Armut und Ungerechtigkeit erinnern an "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern". Was allerdings so gar nicht märchentypisch ist, ist die Wandlung des Protagonisten vom Bösewicht zum Helden. Das Auftreten der Weihnachtsgeister kann man in die eine oder die andere Richtung deuten, allerdings sind Geister, die sich wie Konfrontationstherapeuten verhalten, auch nicht unbedingt märchentypisch. Auch ist das Dickens-Werk für ein Märchen zu umfänglich und in seinen Beschreibungen dem Sozialdrama näher als dem Märchen. Dennoch (und jetzt wird's unwissenschaftlich) fühlt sich die Geschichte für viele irgendwie wie ein Märchen an, und dies ist wohl einer der Gründe, warum sie oft "Weihnachtsmärchen" genannt wird. Letztlich spielt die literaturwissenschaftliche Einordnung auch nicht immer die Hauptrolle.

Hier nun einige Umsetzungen von "A Christmas Carol" im Vergleich:

Von Volker Kriegel, dem Jazzmusiker, Zeichner und Autor, stammt eine neuere und wunderbar illustrierte Fassung, die zunächst bei Heyne erschienen ist und im Oktober neu bei Eichborn erscheint. Titel: "Ein Weihnachtsmärchen" (Charles Dickens, Volker Kriegel)

Eine schöne Filmversion ist "Die Muppets Weihnachtsgeschichte", in der Michael Caine wunderbar die Rolle des Ebenezer Scrooge zum besten gibt. Die anderen Rollen werden zum Großteil von den Muppets gespielt. Kermit ist z.B. in der Rolle des Bob Cratchit zu sehen. Der Film schafft es, auf der einen Seite recht dicht am Original zu bleiben, und auf der anderen Seite doch etwas sehr Eigenes daraus zu machen, mit jeder Menge Muppet-Humor. Sicherlich gibt es noch viele weitere Film-Versionen, aber die der Muppets sticht aus der Menge deutlich hervor und soll daher die einzige sein, die an dieser Stelle erwähnt wird.

Mittlerweile sind auch unzählige Hörbuch-Versionen der Geschichte erhältlich: Peter Sodann, Joachim Krol, Wolfgang Thierse, Bodo Primus, uva. haben Dickens-Lesungen für unterschiedliche Hörbuch-Labels aufgenommen.

Im Bereich "Hörspiel" ist es etwas übersichtlicher. Da gibt es einmal "Fröhliche Weihnachten, Mr. Scrooge" (Titania Medien), eine pompöse zweistündige Version der Geschichte mit vielen bekannten Stimmen. U.a. ist Christian Rode (deutsche Stimme von Christopher Lee) als Ebenezer Scrooge zu hören. Diese Hörspielfassung ist sehr gelungen und bietet wuchtigen Sound, pures Kino für die Ohren, allerdings eher für die Ohren von erwachsenen Hörern, denn die zweistündige Fassung ist für Kinder etwas zu komplex.

Eine Hörspiel-Fassung, die den märchenhaften Anteil der Geschichte hervorhebt und gleichzeitig die Komplexität der Geschichte reduziert, um sie für Kinderohren hörbar zu machen ist die knapp 33-minütige des Labels HoerSketch. Die CD ist unter dem Titel "Charles Dickens' Weihnachtsmärchen und andere Geschichten" (Charles Dickens, Christian Peitz) erschienen. Neben der sprachlich sehr klaren und von Oliver Geister mit wunderbarer Musik ausgestatteten Dickens-Geschichte finden sich auf dieser CD noch vier weitere Kurzhörspiele, die Kindern und Erwachsenen viel Spaß in der Weihnachtszeit bringen.

Google ist ein Menschenfresser

-cp- Dass im Märchen Menschenfresser auftauchen, weiß man ja. Vom Riesen über den Drachen bishin zu anderen Monstern. Dass aber Google eine Märchenprinzessin (drittes Märchen der CD) mit einem Nahrungsmittel verwechselt, dass ist schon seltsam. ;-)

Mittwoch, 17. September 2008

Alkohol

-cp- Über das Thema Alkohol gibt es sehr unterschiedliche Meinungen, was die Wirkung des (übermäßigen) Konsums angeht, aber sehr ähnliche Beobachtungen. Objektiv gesehen hat Alkohol extrem wenig positiven Nutzen, subjektiv fühlen sich viele Menschen besser, wenn sie was getrunken haben oder sie brauchen alkoholische Getränke, um überhaupt entspannen oder sich amüsieren zu können. Wie man es dreht und wendet, Alkohol ist eine (gesellschaftlich akzeptierte) Droge, deren Konsum negative Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hat. Das oft zitierte gesunde Glas Rotwein, das man angeblich täglich trinken soll, ist übrigens ein weit verbreiteter Irrtum, denn das, was an diesem Glas Rotwein gesund ist, findet sich auch in roten Traubensaft, nur das der keinen Alkohol enthält und deshalb wohl auch so wenig angepriesen wird.

Da bemühen sich die Lehrer und Pädagogen in diesem Land um eine gute Aufklärung in Bezug auf Alkoholkonsum, und dann kommt ein Herr Beckstein daher und sieht die ganze Sache einfach mal ein wenig anders. Durch eine Oktoberfestbrille. Positiv daran ist, dass Herr Beckstein Anlass zu einem erneuten aufklärerischen Aufgreifen des Themas gegeben hat. Allerdings muss er sich nun gefallen lassen, dass öffentlich an seiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt wird. Prost!

Sonntag, 14. September 2008

"Der Märchenprinz im Märchenwald hört einen Schuss, der gar nicht knallt", Peitz

(Tobias Kölling) Zwölf Märchen und die beim Publikum so beliebte Drachenballade, und peitztypisch wimmelt es nur so von kleinen Sätzen, die zum Schmunzeln anregen, und die seine subtile Pädagogik erneut in der richtigen Dosierung liefern. Nämlich nur mit einem kurzen Nebengedanken - nie als ausschließliches Ziel der Geschichte. Mit dem vorliegenden Buch ist ihm die Ablösung von seinen Hörspielen komplett geglückt. Diese Texte stehen für sich - auch wenn sie alle aus seinen Märchenhörspielen entstanden sind.

Da liest man dann vom Poesieminister, der mit seinen magischen Gedichten die Welt auf seine ganz eigene Weise bearbeitet, von einem jungen Mann, der als Räuberlehrling Karriere macht, von der ungewöhnlichen Liebe zwischen einem Fisch und einem Vorkoster, von der Melodie des Friedens und einem Stinktier, von Peter dem Prächtigen, den der Bauwahn packt, von einer Zauberpuppe, die Chucky alle Ehre macht, von einer Prinzessin die sich in einen Teppich verwandelt, vom Prinz von Lugabugien der unterwegs nach Lagobagien regelmäßig überfallen wird, von einer kleinen Blume, von einer wunschgierigen Prinzessin und einem Lampengeist, einem vom Regen verfolgten Prinzen und zuletzt von einem romantischen Bäcker.

Peitz Märchen sind kleine Liebeserklärungen an die Menschen. Seine Helden fühlen sich oft am falschen Platz oder überschätzen sich selber. Seine Prinzessinen sträuben sich gegen die Vorherbestimmungen, denen sie ausgesetzt sind. Und wenn bei ihm das Schicksal zuschlägt, dann tut es das meist mit feiner Ironie. Gekonnt läßt er dabei die Sprache spielen, läßt Prinzessinnen schon mal salopp werden und Könige überhöflich, wirft auch schon mal Modernismen in die Märchenwelt und zeichnet im "Prinz von Lugabugien" mal eben die Entwicklung der Verkehrsmittel nach. Und immer wieder purzeln ihm seltsam vertraute Anspielungen in den Text - so dass Lesen hier wirklich Spaß macht.

Natürlich eignen sich diese Geschichten ganz hervorragend für Kinder - aber auch Erwachsene dürften ihren großen Spaß haben und manchmal erstaunt feststellen, dass in diesen Gecshichten manchmal Botschaften versteckt sind, die Kinder überhören, oder aber ganz anders auffassen. Wahr sind seine Texte trotzdem für alle Alterstufen. Und das macht seine Kunst aus. Und wer das Buch zuerst entdeckt dürfte auch von den CDs nicht enttäuscht werden...

Christian Peitz - "Der Märchenprinz im Märchenwald hört einen Schuss, der gar nicht knallt." - BOD/ HoerSketch, Norderstedt/Münster, 2008.

"Schräge Märchen", Andersen

"Und der Wind küßte den Baum, und der Tau vergoß Tränen über ihn, aber das verstand der Tannenbaum nicht." (Andersen, Der Tannenbaum)

(Tobias Kölling) Die Märchenzusammenstellung des Deutschen Taschenbuch Verlags kommt durchaus überraschend daher. Einige der "klassischen" Andersentexte erscheinen zwar (Die kleine Meerjungfrau, Das Feuerzeug, Der Tannenbaum), andere hingegen sind gänzlich unbekannt - und die Mischung bringt einen Andersen zum Vorschein, der zwar auch in den bekannten Texten schon zu finden ist - in dieser Deutlichkeit aber eben doch überrascht. Der Essay von Michael Maar tut das Seine um das Bild eines liebevollen Märchenonkels plötzlich schillern zu lassen.

Die Texte sind in fünf thematische Gruppen gegliedert - bekannte und unbekannnte, lange und kurze Texte dabei bunt durcheinander gewürfelt. Erstaunt stellt man fest, dass Andersen sich mit dem zweiten Teil von Goethes Faust beschäftigte und dass er eine Liste von Märchen anlegte, die noch erzählt werden müßten. Und liest man sich erstmal fest, bemerkt man die ganz eigene Poesie von Andersens Sprache, die dem Übersetzer einiges abverlangt. Sie ist im wahren Wortsinne musikalisch - und der Erzähler beherrscht ein breites Repertoire von todtrauriger Ironie bis zu zwinkernder Pädagogik. Letztere ist um einiges unaufdringlicher als man annehmen könnte - bzw. teilweise gar nicht vorhanden. Denn Andersen schrieb nicht gezielt für Kinder. Manche Sätze lassen darum vielleicht Erwachsene laut auflachen weil sie an politische Satiren erinnern - andere wiederum versprühen wissenschaftliche Weisheit - um kurz darauf wieder mit einem Kinderwitz scheinbar zu zerplatzen.

Auf seine Texte kann hier nur mit kurzen Schlaglichtern Bezug genommen werden - das amüsierte Selberlesen läßt sich halt nicht ersetzen. Faszinierend waren die immer neuen Deutungen und Wandlungen der Figuren, die zwischen bewußt gewählter Verkleidung und unschuldigem Mißverständnis lavieren, die unerwartete Storykomik, mit der z.B. ein Floh und ein Professor in fremde Kontinente fliehen, ein Mensch und sein Schatten die Rollen tauschen oder die Tiere des Waldes eine Zeitung herausgeben wollen.

Stärker noch als bei den konventionellen Andersensammlungen scheint hier aber auch ein Autor durchzuscheinen der von tiefen Sebstzweifeln geplagt war; der in ironischer Umsetzung seines Namens 'anders' war - herausfiel, sich nicht einzuordnen wußte - und dabei durchaus selber aktiv dafür sorgte, dass er nicht unbedingt auf Nächstenliebe hoffen durfte. Michael Maar schildert ausführlich und anekdotengespickt die krankhafte Hypochondrie des Autors ("...auf seinem Nachtisch immer der Zettel: 'Ich bin scheintot.'" 288.) - wie auch die Beschimpfungen wegen seines Aussehens. "Enorme Füße, eine riesige Adlernase, Schweinsäuglein und überlang herabschlackernde Arme, eine dürr hochragende Gestalt, so daß er außer Orang-Utan auch Kranich genannt werden konnte, des Zappelns und Schwänzelns wegen aber auch Eidechse - so das Äußere des großen Dänen." (285f.) - Das häßliche Entlein, das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, das Feuerzeug, der standhafte Zinnsoldat, der Tannenbaum und die kleine Meerjungfrau - sie alle haben diese Themen gemeinsam: Den Tod, das Anderssein und das hilflose Ausgeliefertsein, die Erstarrung.

Zur kleinen Meerjungfrau überrascht Maar mit einer steilen These: Sie sei die Verarbeitung der Heirat seiner unerfüllten Liebe zu Edvard Collin, 'dem wahren Geliebten seines Lebens'. Das Hans-Christian-Andersen-Center erklärt auf seiner Website ausführlich seit wann und wie die mögliche Homosexualität des Dichters diskutiert wurde, ohne faktisch nachweisbar zu sein. Maars Argument scheint jedoch in dem Zeitpunkt zu liegen: "Die kleine Meerjungfrau entstand als Collin heiratete." Hier dürfte noch mehr Forschungsbedarf als eine sichere Grundlage vorliegen. Ob er allerdings hingegen die Geschichte wirklich explizit für ein Mädchen schrieb dürfte genauso unsicher sein. Andersens Märchen bestechen durch eine auffällig 'objektive' Perspektive (trotz der zutiefst subjektiven Gefühlseinbindung), in der der Autor keinem Geschlecht, keiner Nation den Vortritt zu geben scheint. Großartig ist übrigens Maars übersichtliche Analyse von Andersens 'Verarbeitung' in den Werken seiner Kollegen, Literaten wie Kafka, Thomas Mann, Vladimir Nabokov und James Joyce.

Fazit: Insgesamt ein handliches Taschenbuch, das tatsächlich voller Überraschungen ist und einen ungewohnten Blickwinkel auf einen zu Recht berühmten Dichter zu werfen eröffnet. Das Buch ist vergriffen, aber in der Regel problemlos als Gebrauchtexemplar erhältlich.

Hans Christian Andersen - Schräge Märchen, dtv-Verlag, Frankfurt am Main 1996

Das Märchen

Das Problem mit dem Begriff "Märchen" ist, dass er auf völlig unterschiedliche Weisen verstanden wird. Es gibt zunächst mal Volks- und Kunstmärchen und Moderne Märchen, und selbst in diesen drei kleinen Bereichen gibt es himmelweite Unterschiede, denn das, was wir gemeinhin unter "Volksmärchen" verstehen, gilt vor allem für das europäische Volksmärchen. Und an den "modernen Märchen" scheiden sich sowieso die Geister. Dann gibt es noch die Redewendung "Erzähl mir keine Märchen", und hier meint der Märchenbegriff im Grunde "Lügen(geschichten)", und es gibt das weite Feld fantastischer Geschichten jedweden Medienformats, für die allzuschnell die Bezeichnung Märchen verwendet wird. Zudem gibt es die literaturwissenschaftliche Abgrenzung des Märchens zu ähnlichen Gattungen wie Sagen, Legenden, Mythen und Fabeln.

Der Begriff Märchen ist also ziemlich verwaschen, und letztlich hat jeder eine eigene Vorstellung davon, was unter einem Märchen zu verstehen ist, sprich: ob man den Begriff nun weit oder eng fasst. Das Problem bei einem weit gefassten Rahmen ist allerdings, dass es schnell relativ beliebig und dadurch letztlich nichtssagend wird. Hier nun der Versuch einer engen Definition des Märchens, aufbauend auf Lüthi und Bettelheim.

Charakteristika des Märchens
Wenn man von einem Grundtyp des Märchens ausgeht, dann muss dieses "als Idealtyp aufgefasst werden; die einzelnen Erzählungen umkreisen ihn, nähern sich ihm, ohne ihn je ganz zu erreichen." (Lüthi, Max: "Märchen", 2004, 10. Auflage, S.25)

1. Die Handlung: Es gibt einen Handlungsstrang, um den sich das Märchen dreht, also eine Aufgabe, die bewältigt werden muss. Dies gilt für Volks- wie auch für Kunstmärchen. Beispiele: Hänsel und Gretel wurden im Wald ausgesetzt und wollen zurück nach Hause, Zwerg Nase kämpft um seine Rückverwandlung, Die kleine Gerda will Kai aus der Macht der Schneekönigin befreien,... Diese Handlung läuft stringent, d.h. es gibt keine Rückblenden und keine Ortswechsel. Die Handlung folgt immer dem Helden. (Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. die Szenen mit der bösen Stiefmutter aus "Sneewittchen".) Der Held macht sich auf eine tatsächliche (oder auch spirituelle) Reise und löst dabei nicht nur seine Aufgabe, sondern vollzieht auch eine wichtige Entwicklung.

2. Die Figuren: Die Figuren sind grundsätzlich allgemein gehalten und stereotyp. Sie sind gut oder böse. Auch haben sie (zumindest im Volksmärchen) in der Regel keine Namen. Und wenn Namen auftauchen, dann sind es die zu der Zeit verbreitesten Namen wie z.B. Hans (Deutschland), Jack (England) oder Iwan (Russland). In der Regel sind es Der Prinz, Die Fee oder Der Soldat, die im Märchen auftauchen.

3. Das Achtergewicht: Die jüngste Tochter ist die schönste, der Arme/Benachteiligte ist am Ende der Sieger, usw. Beispiel: Nur das jüngste der sieben Geißlein entkommt dem bösen Wolf.

4. Formelhafte Sprache: Die Märchensprache enthält eine gewisse Formelhaftigkeit ("Es war einmal",...) und wiederkehrende Formulierungen. So gibt die Sprache dem Märchen auch Struktur.

5. Magische Zahlen: Die Zahlen 3, 7 und 12 haben im Märchen eine besondere Bedeutung und treten viel öfter auf als alle anderen. Beispiele: Sieben Zwerge, sieben Geißlein, drei Brüder oder (in Andersens "Feuerzeug") drei Hunde. Auch die Zahlen strukturieren das Märchen. So muss der Held immer drei Aufgaben lösen, und die böse Stiefmutter benötigt drei Versuche und Schneewittchen (vorläufig) zu töten.

6. Magie: In Märchen treten magische Gestalten und Fabelwesen auf, und magische Artefakte mit magischen Wirkungen kommen ebenfalls vor.

7. Isolation: Die Befreiung aus einer Isolation ist grundsätzlicher Bestandteil der handlungsbestimmenden Heldenaufgabe. Allerdings treten Helferfiguren auf und stehen dem Helden zur Seite. Die Helfer sind aber immer auch Außenseiterfiguren. Der mächtige König könnte niemals Helfer sein, wohl aber der Jäger, der (wie der Held auch) allein unterwegs ist, oder die sieben Zwerge, die zivilisationsfern leben.

Wahrscheinlich wird kein Märchen all diese Punkte vollständig erfüllen können. Insbesondere die Kunstmärchen (Andersen, Hauff, u.a.) weichen meist stärker davon ab. Jedoch sind die hier angegebenen Merkmale wesentliche Märchencharakteristika. Wichtig zu bedenken ist auch, dass das Märchen zu den kurzen Gattungen gehört. "Der kleine Hobbit", "Die Brautprinzessin" und "Der Sternenwanderer" haben zwar allerlei märchenhafte Elemente, sind aber bestensfalls märchenhafte Romane. Und: Das Auftauchen einer guten Fee allein ("Idioten", Jakob Arjouni) macht eine Geschichte noch nicht zum Märchen. Aber die Grenze zwischen einem Märchen und einer fantastischen Geschichte ist durchaus fließend. In Anbetracht der Flut von Büchern, Hörspielen und Filmen ist es heute wohl unmöglich, allgemeinverbindliche Kriterien zu finden, die eine eindeutige Festlegung möglich machen.

Sonntag, 7. September 2008

"Tischlein deck Dich" und der ungenaue Märchentitel

In Märchen wimmelt es nur so von magischen Artefakten. Da gibt es den magischen Zauberspiel ("Sneewittchen", Brüder Grimm), der ganz genau weiß, welche Frau die schönste ist, da gibt es das Feuerzeug, mit dem man magische Hunde herbeirufen kann ("Das Feuerzeug", Hans-Christian Andersen) oder das Zauberpulver, mit dessen Hilfe man eine Tiergestalt annehmen kann ("Kalif Storch", Wilhelm Hauff). Und dann gibt es da noch das bekannte Märchen vom "Tischlein deck Dich", das gleich drei verschiedene Zaubergaben enthält.

Wenn man allerdings genau sein möchte, müsste man festhalten, dass dieses Märchen, das viele unter dem Titel "Tischlein deck Dich" kennen, eigentlich gar nicht so heißt, jedenfalls nicht genau. In der ersten Ausgabe des Grimmschen Märchenbuches von 1812 hieß das Märchen "Von dem Tischgen deck dich, dem Goldesel und dem Knüppel in den Sack". 1819 erschien die zweite Ausgabe, und darin hieß das Märchen "Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack". In einigen Fassungen trägt das Märchen auch den Einworttitel "Tischendeckdich".

Erst Ludwig Bechstein nahm dieses Märchen in einer etwas anderen Version unter dem Titel "Tischlein deck dich, Esel streck dich und Knüppel aus dem Sack" 1845 in seine Märchensammlung auf. Es ist schon etwas eigentümlich, dass dieses Märchen unter dem Titel "Tischlein deck dich" berühmt wurde, obwohl es so eigentlich gar nicht heißt. Selbst in der Märchen-Hörspielreihe von EUROPA ist stehen die Brüder Grimm mit dem falschen Märchentitel auf dem Cover. Und wo wir gerade dabei sind, "Schneewittchen" heißt bei den Grimms eigentlich "Sneewittchen". Um aber auf die magischen Gegenstände zurückzukommen, davon finden sich auch so einige in dem Märchenhörspiel "Harfenzauber" von der CD Märchenzauber (Christian Peitz).

Mittwoch, 3. September 2008

Zahlen

-sg- Zahlen und Statistiken können trügerisch sein. So lag die Zahl der Suizidtoten nach Angaben der Selbsthilfeorganisation "Angehörige um Suizid" (AGUS) im vergangenen Jahr mit 9402 zum zweiten Mal in Folge unter der Marke von 10 000. Das klingt doch "gut": weniger als letztes Jahr, weniger als 10.000. Schaut man aber genauer hin, bedeutet die Zahl auch, dass in Deutschland alle 47 Minuten ein Mensch durch Selbsttötung stirbt. Alle 47 Minuten! Das klingt irgendwie schon nicht mehr so "gut". Denn damit sterben laut des Referats Suizidologie bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde mehr Menschen in Deutschland durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch, Mord, Totschlag und Aids zusammen. Die Zahl der Selbstmordversuche wird auf mehr als 100 000 pro Jahr geschätzt.