"Und der Wind küßte den Baum, und der Tau vergoß Tränen über ihn, aber das verstand der Tannenbaum nicht." (Andersen, Der Tannenbaum)
(Tobias Kölling) Die Märchenzusammenstellung des Deutschen Taschenbuch Verlags kommt durchaus überraschend daher. Einige der "klassischen" Andersentexte erscheinen zwar (Die kleine Meerjungfrau, Das Feuerzeug, Der Tannenbaum), andere hingegen sind gänzlich unbekannt - und die Mischung bringt einen Andersen zum Vorschein, der zwar auch in den bekannten Texten schon zu finden ist - in dieser Deutlichkeit aber eben doch überrascht. Der Essay von Michael Maar tut das Seine um das Bild eines liebevollen Märchenonkels plötzlich schillern zu lassen.
Die Texte sind in fünf thematische Gruppen gegliedert - bekannte und unbekannnte, lange und kurze Texte dabei bunt durcheinander gewürfelt. Erstaunt stellt man fest, dass Andersen sich mit dem zweiten Teil von Goethes Faust beschäftigte und dass er eine Liste von Märchen anlegte, die noch erzählt werden müßten. Und liest man sich erstmal fest, bemerkt man die ganz eigene Poesie von Andersens Sprache, die dem Übersetzer einiges abverlangt. Sie ist im wahren Wortsinne musikalisch - und der Erzähler beherrscht ein breites Repertoire von todtrauriger Ironie bis zu zwinkernder Pädagogik. Letztere ist um einiges unaufdringlicher als man annehmen könnte - bzw. teilweise gar nicht vorhanden. Denn Andersen schrieb nicht gezielt für Kinder. Manche Sätze lassen darum vielleicht Erwachsene laut auflachen weil sie an politische Satiren erinnern - andere wiederum versprühen wissenschaftliche Weisheit - um kurz darauf wieder mit einem Kinderwitz scheinbar zu zerplatzen.
Auf seine Texte kann hier nur mit kurzen Schlaglichtern Bezug genommen werden - das amüsierte Selberlesen läßt sich halt nicht ersetzen. Faszinierend waren die immer neuen Deutungen und Wandlungen der Figuren, die zwischen bewußt gewählter Verkleidung und unschuldigem Mißverständnis lavieren, die unerwartete Storykomik, mit der z.B. ein Floh und ein Professor in fremde Kontinente fliehen, ein Mensch und sein Schatten die Rollen tauschen oder die Tiere des Waldes eine Zeitung herausgeben wollen.
Stärker noch als bei den konventionellen Andersensammlungen scheint hier aber auch ein Autor durchzuscheinen der von tiefen Sebstzweifeln geplagt war; der in ironischer Umsetzung seines Namens 'anders' war - herausfiel, sich nicht einzuordnen wußte - und dabei durchaus selber aktiv dafür sorgte, dass er nicht unbedingt auf Nächstenliebe hoffen durfte. Michael Maar schildert ausführlich und anekdotengespickt die krankhafte Hypochondrie des Autors ("...auf seinem Nachtisch immer der Zettel: 'Ich bin scheintot.'" 288.) - wie auch die Beschimpfungen wegen seines Aussehens. "Enorme Füße, eine riesige Adlernase, Schweinsäuglein und überlang herabschlackernde Arme, eine dürr hochragende Gestalt, so daß er außer Orang-Utan auch Kranich genannt werden konnte, des Zappelns und Schwänzelns wegen aber auch Eidechse - so das Äußere des großen Dänen." (285f.) - Das häßliche Entlein, das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, das Feuerzeug, der standhafte Zinnsoldat, der Tannenbaum und die kleine Meerjungfrau - sie alle haben diese Themen gemeinsam: Den Tod, das Anderssein und das hilflose Ausgeliefertsein, die Erstarrung.
Zur kleinen Meerjungfrau überrascht Maar mit einer steilen These: Sie sei die Verarbeitung der Heirat seiner unerfüllten Liebe zu Edvard Collin, 'dem wahren Geliebten seines Lebens'. Das Hans-Christian-Andersen-Center erklärt auf seiner Website ausführlich seit wann und wie die mögliche Homosexualität des Dichters diskutiert wurde, ohne faktisch nachweisbar zu sein. Maars Argument scheint jedoch in dem Zeitpunkt zu liegen: "Die kleine Meerjungfrau entstand als Collin heiratete." Hier dürfte noch mehr Forschungsbedarf als eine sichere Grundlage vorliegen. Ob er allerdings hingegen die Geschichte wirklich explizit für ein Mädchen schrieb dürfte genauso unsicher sein. Andersens Märchen bestechen durch eine auffällig 'objektive' Perspektive (trotz der zutiefst subjektiven Gefühlseinbindung), in der der Autor keinem Geschlecht, keiner Nation den Vortritt zu geben scheint. Großartig ist übrigens Maars übersichtliche Analyse von Andersens 'Verarbeitung' in den Werken seiner Kollegen, Literaten wie Kafka, Thomas Mann, Vladimir Nabokov und James Joyce.
Fazit: Insgesamt ein handliches Taschenbuch, das tatsächlich voller Überraschungen ist und einen ungewohnten Blickwinkel auf einen zu Recht berühmten Dichter zu werfen eröffnet. Das Buch ist vergriffen, aber in der Regel problemlos als Gebrauchtexemplar erhältlich.
Hans Christian Andersen - Schräge Märchen, dtv-Verlag, Frankfurt am Main 1996