Samstag, 5. Juli 2008

Splattermärchen

Am Märchen scheiden sich die Geister. Sicherlich ist jede Textsorte (und letztlich auch jeder einzelne Text) Geschmacksache, aber was die Menschen mit dieser speziellen Literaturgattung in Verbindung bringen, kann schon höchst unterschiedlich sein. Die einen verstehen unter dem Märchen etwas romantisch Verklärtes, die anderen sehen darin Geschichten voller Gewalt, die auf keinen Fall jugendfrei sind. Tatsache ist, dass das Märchen breit gefächert ist und durchaus beides beinhalten kann. Wobei die Hexe, die Hänsel und Gretel essen möchte, oder böse Wolf, der Rotkäppchen und Großmutter frisst, noch vergleichsweise harmlos sind. Denn unter den Volksmärchen der Brüder Grimm finden sich auch wahre Splattermärchen. Zwei Beispiele:

1) Fitchers Vogel
Ein Hexenmeister verkleidet sich als Bettler und entführt junge Frauen. Diese lässt er allein in seiner Waldhütte zurück und gibt ihnen die Freiheit alles zu tun, nur ein bestimmtes Zimmer dürfen sie nicht betreten. Wenn sie es doch tun finden sie in dem Raum Folgendes vor: (Zitat aus dem Originalmärchen) "Ein großes blutiges Becken stand in der Mitte, und darin lagen tote zerhauene Menschen, daneben stand ein Holzblock und ein blinkendes Beil lag darauf." Als der Hexenmeister nach Hause kommt, merkt er, dass die junge Frau in der Kammer war und... (Zitat aus dem Originalmärchen) "Er warf sie nieder, schleifte sie an den Haaren hin, schlug ihr das Haupt auf dem Bocke ab und zerhackte sie, dass ihr Blut auf dem Boden dahinfloss. Dann warf er sie zu den übrigen ins Becken."
Diese bei den Brüdern Grimm doch recht blutrünstige Geschichte gibt es auch in weniger brutalen Varianten. Der dänische Märchensammler Svend Grundtvig hat das Motiv in seinem Märchen "Das Schwein" verarbeitet. Ebenso taucht in die Geschichte in der Sammlung des Norwegers Peter Christen Asbjørnsen wieder auf, in dem Märchen "Die drei Schwestern im Berg". Das Motiv taucht auch im Märchen über den Ritter Blaubart auf, das es sowohl bei Charles Perrault als auch bei Ludwig Bechstein zu lesen gibt.

2) Von dem Machandelbaum
(Ein plattdeutsches Märchen.) Die Stiefmutter sagt zum Stiefsohn, er solle sich einen roten Apfel aus einer Kiste nehmen. Als er sich bückt um hereinzugreifen, schlägt sie den Deckel zu und ihm dadurch den Kopf ab. Sie setzt den toten Körper auf einen Stuhl, setzt den Kopf wieder drauf und bindet ihm ein Halstuch um. Sie gibt ihm einen Apfel in die Hand. Als die Schwester den Apfel nehmen will, fällt der Kopf hinunter und sie denkt, sie habe ihren Bruder ermordet. Die Stiefmutter beruhigt sie, hackt dann den Leichnam in Stücke und kocht ihn, um ihn nach und nach dem Vater zu servieren, der so unwissend seinen eigenen Sohn isst. Die Schwester sammelt die Knochen auf und begräbt sie unter einem Machandelbaum (plattdeutsch für "Wacholderbaum"). Der Junge wird als Waldvogel wiedergeboren. Später nimmt er in seiner Vogelgestalt Rache, indem er einen schweren Mühlstein auf die Stiefmutter fallen lässt, "dat se ganz tomatscht".
Die hochdeutsche Variante des Märchens "Der Wacholderbaum" findet sich in der Märchensammlung Ludwig Bechsteins.