-cp- Es gibt unzählige Begriffsschemata, nach denen sich Literatur in unterschiedliche Kategorien aufteilen lässt. Eines dieser Schemata trennt belletristische Texte in zwei Kategorien: in realistische und fantastische Literatur. Definiert man diese beiden Kategorien grob, dann würde realistische Literatur die Geschichten umfassen, die man als theoretisch in der Wirklichkeit denkbar einstufen würde, während die fantastische Literatur als Überbegriff für die Geschichten steht, die sich mit übernatürlichen Elementen befassen. Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes ist ein Beispiel für eine Figur, deren Geschichten sich im Grenzland zwischen den beiden Kategorien befindet. In der Tendenz würde man sie allerdings eher zur realistischen Literatur zählen, denn trotz der zum Teil hanebüchenen Handlungsabläufe wären sie rein theoretisch doch denkbar, da letztlich alle übernatürlich erscheinenden Phänomene durch Holmes' induktives Denken auf Natürliches und Erklärbares zurückgeführt wird.
Ein wichtiges Merkmal der Geschichten ist hierbei der Aberglaube der Figuren, denn ohne ihn würden übernatürlich erscheinende Ereignisse von vornherein nicht ernst genommen, und es gäbe keine Geschichten. Holmes' Waffen gegen den Abglauben sind Vernunft und Zweifel.
Der Aberglaube der Figuren ist auch in anderen Geschichten des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts ein wichtiges Merkmal, weil er bewirken kann, dass realistische Literatur eine mitunter gruselige Note bekommt.
In Die Abenteuer des Tom Sawyer (Mark Twain, 1876) möchte Toms Freund Huckleberry Finn eine Warze loswerden, und zwar mithilfe einer toten Katze: "Weißt du, du nimmst die Katze und gehst auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloser begraben ist. Wenn's dann Mitternacht ist, kommt ein Teufel - oder auch ein zweiter oder dritter -, du kannst sie aber nicht sehen, sondern hörst nur so was wie den Wind, oder hörst sie sprechen. Und wenn sie dann den Kerl fortschleppen, wirfst du die Katze hinterher und rufst 'Teufel hinterm Leichnam her, Katze hinterm Teufel her, Warze hinter der Katze her - Seh euch alle drei nicht mehr!' Das heilt jede Warze." (Ausgabe des Lingen-Verlags, Köln, S. 64)
Auch in Der Schimmelreiter (Theodor Storm, 1888) soll die Natur durch abergläubische Handlungen bezwungen werden. Protagonist Hauke Haien ist Deichgraf und will einen neuen, sicheren Deich bauen. Die Arbeiter meinen nun, ohne Opfer könne der Deich nicht halten. "Soll Euer Deich sich halten, so muss was Lebiges hinein!" - "Was Lebiges? Aus welchem Katechismus hast du das gelernt?" - "Aus keinem, Herr!", entgegnete der Kerl, und aus seiner Kehle stieß ein reches Lachen; "das haben unsere Großväter schon gewusst, die sich mit Euch im Christentum wohl messen durften! Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist, tut's wohl auch ein Hund!" (Ausgabe des Anaconda Verlags, Köln, 2006, S.105f.)