-sv- Als Folge meines Eintrags vom letzten Sonntag, ist es zu einer ausführlichen Debatte gekommen, die zwei Fragen von Tobias aufgeworfen hat. Ich will Frage 2 an den Anfang stellen, beantwortet sie für mich doch z.T. auch Frage 1.
Woher nehme ich Gewissheit, gerade wenn ich begründete Zweifel an Medien habe? Also: Woran erkenne ich Experten?
Ein Experte auf journalistischem Gebiet ist meiner Meinung nach der, der sich in seiner Berichterstattung an nachvollziehbaren und überprüfbaren Kriterien orientiert (Stichwort: Transparenz). Michael Haller hat meine Sicht der Dinge sehr schön auf den Punkt gebracht: „Unter konstruktivistischem Blickwinkel wird der nachrichtlich arbeitende Rechercheur die ihm zugetragenen Mitteilungen erheblich reflektierter analysieren müssen. Denn er kann nicht davon ausgehen, dass sich die Informationen nach dem Muster wahr/unwahr/nicht feststellbar bewerten lassen. Er wird vielmehr jede Aussage für eine Version halten, die eine Geschichte erzählt. Freilich besitzt nicht jeder Version dieselbe Gültigkeit: Es gibt mehr oder weniger strittige [...] Darstellungen, Schilderungen, Erzählungen. Darum benutzt der reflektiert arbeitende Journalist solche Recherchierverfahren, mit denen er die Unstrittigkeit von Versionen und Teilversionen ermitteln und überprüfen kann. Die diesem Verfahren zugrunde liegende Methode lautet: Ein Sachverhaltsaussage gilt dann als zutreffend, wenn sie durch intersubjektive Überprüfung verifiziert ist, d.h. wenn die unstrittigen – und damit auch die strittigen Teilaussagen ermittelt sind. Praktisch geschieht dies in erster Linie durch das gezielte Befragen der mit dem fraglichen Sachverhalt [...] in Beziehung stehenden Personen, in zweiter Linie (gegebenenfalls) durch Augenschein am Ort. Aussagen, die sich intersubjektiv als unstrittig erweisen, besitzen Gültigkeit, d.h. sie werden nach Maßgabe des aktuellen Wissensstandes als zutreffend (in der Sprache der Argumentationslogik: als wahr) eingeschätzt. Dies bedeutet: Auch als wahr identifizierte Aussagen haben eine stets nur vorläufige Gültigkeit; sie können jederzeit durch neues Wissen erneut strittig werden.“
Bezogen auf unsere Kontroverse würde dies bedeuten, dass widerstreitenden Möglichkeiten zu einem Thema und stützende Fakten zu den Aussagen präsentiert werden müssen. Dass es das Straflager von Kaechon gibt, dürfte unstrittig sein, ebenso, dass Frau Soon Ok Lee sich in diesem Straflager aufgehalten hat. Ab dann wird es aber schwierig: Wurde sie tatsächlich gefoltert und wenn ja, wie? Ihre vermeintlichen Peiniger werden Stillschweigen bewahren. Steht hier nun Aussage gegen Aussage? Ich denke nicht. Allerdings wäre es möglich, andere ehemalige Gefangene aus Kaechon zu befragen, die möglichst nichts von Frau Lees Aussage wissen dürfen. Sollten viele Menschen zu ähnlichen Aussagen kommen, würde m.E. so etwas wie ein Konsens darüber entstehen, dass in diesem Straflager Folter zum Alltag gehört. Fazit: Der kommentarlos abgedruckte Bericht der Frau Lee hinterlässt Fragezeichen bei all jenen, die sich eine intersubjektive Überprüfung und die Berichterstattung darüber wünschen. Ein journalistischer Experte im Sinne von Haller hätte diese Überprüfung an den Anfang des Berichts der Frau Lee stellen sollen/müssen.
Warum nehmen wir Nachrichten so unterschiedlich wahr, bzw. ziehen unterschiedliche Konsequenzen?
Dies liegt m.E. eben auch im Fehlen der reflektierenden Analyse, die den Leser ebenfalls zu einem Quasi-Experten machen würde. Doch wer kann schon dutzende Zeitungen lesen, Themen von allen Seiten beleuchten usw. Wir lesen eine, vielleicht zwei Zeitungen, die sich dann auch noch an den kulturellen Normen und Werten orientieren, die uns entgegen kommen. Wir sind Medien ausgesetzt, die einerseits bestimmte Kommunikationsabsichten haben, sich aber auch an Kommunikationserwartungen orientieren müssen, um nicht wirtschaftlich zugrunde zu gehen. Leider ist auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht frei von politischen Einflüssen. Um also dem von den USA Gefolterten ebensoviel Mitgefühl entgegenbringen zu können, wie der Gefolterten aus Nord-Korea, bedürfte es einer neutraleren Berichterstattung. Allerdings spielt bei der Beurteilung der jeweiligen Folterer wohl auch die Angst vor „dem Staat“ der dahinter steht eine Rolle – den USA trauen die meisten Deutschen wohl eher als einem Nord-Koreaner, der vor allem mit dem Abschuss von Atomraketen droht, da wir das Ziel dieser Raketen sein könnten; die „Schurkenstaat“-Rhetorik wird ihren Teil zur Furcht beigetragen haben. Und die Koreaner fürchten sich bestimmt mehr vor den imperialistischen USA. Wie immer wir es drehen: es ist eine Frage der Perspektive.
[Quelle Zitat Haller: Die Wirklichkeit der Medien 1994, S. 283)