-cp- Der Begriff "Märchen" ist literaturwissenschaftlich keinesfalls eindeutig. Die einen definieren das Märchen sehr eng und ordnen der Gattung im Grunde nur die Klassiker (z.B. Grimm, Hauff, Andersen, 1001 Nacht) unter. Die anderen fassen den Begriff weit und bezeichnen auch Filme wie Star Wars oder Pretty Woman als Märchen. Folke Tegetthoffs Buch trägt nun den Titel "Die schönsten Märchen", und in der Tat finden sich in seinen Texten märchenhafte Motive. Aber auch Geschichten mit religiösem Hintergrund finden sich in diesem Buch, die übrigens, was ich lobend erwähnen möchte, nicht auf eine Religion beschränkt sind.
Tegetthoff ist durchaus ein guter Erzähler, aber: Seine "schönsten Märchen" waren mir zu weit vom "Märchen" entfernt. Es gibt in diesem Buch nur wenige Geschichten, die eine verträumt-poetische Atmosphäre haben. Vieles scheint mir sehr erwachsen und kopflastig zu sein, zum Beispiel knüpft die Fortsetzung zu Andersens "Prinzessin auf der Erbse" nicht wirklich am Original an, sondern macht aus der höflich-sensiblen Prinzessin eine herrschsüchtige Monarchin. Einige Geschichten sind wirklich nett, bei anderen habe ich mich gefragt, was das eigentlich soll. Es gibt Präsens-Erzählungen, was an sich jede Märchenatmosphäre im Keim ersticken muss. Malerische Beschreibungen und Einführungen in die Geschichten sind in diesem Buch die Ausnahme. Meistens geht es unmittelbar los. Das ist nicht gut oder schlecht, aber es ist für mich eben auch nicht Märchen, sondern Kurzgeschichte. Vermutlich wollte Tegetthoff mit seinen Texten das Märchen formal weiterentwickeln und aus seinem engen Korsett befreien, worauf zum Beispiel auch die im Buch enthaltenen "Märchenbriefe" hindeuten. Meines Erachtens nach führt er das Märchen jedoch nicht auf neue Bahnen, sondern einfach nur in benachbarte Gefilde. Formal und sprachlich gesehen, handelt es sich also eher um Kurzgeschichten mit märchenhaften, fabelhaften und religiösen Elementen als um wirkliche "Märchen".
Fazit: Bevor man dieses Buch kauft, muss man sich überlegen, wie "märchenhaft" man sich die Märchen wünscht, die man gern lesen würde. Ich kann mir gut vorstellen, dass Tegetthoffs Märchen manchen Leser ansprechen. Mir als erwachsenem Märchen-Liebhaber gefällt der Stil nicht besonders gut, und auch Kindern würde ich aus diesem Buch nicht vorlesen, einfach weil es sehr viel lesens- und vorlesenswertere Literatur gibt.