-cp- Der aufklärerische Philosoph Christian Wolff (1679-1754) war nicht unbedingt der größte aller Märchenfreunde. Als Gattung zieht er dem Märchen die Fabel deutlich vor. Er schreibt: "So hat man den Kindern bei sich zeigendem Gebrauche der Vernunft durch Exempel und Fabeln die Tugenden und Laster vorzustellen, damit sie beide nicht allein kennenlernen, sondern auch einen Trieb zu jenen und einen Abscheu vor diesen bekommen. Und mit diesen Erzählungen würde man bei ihnen ein Mehreres fruchten als mit den abgeschmackten Märlein die gewöhnlicher Maßen von alten Weibern und ihresgleichen den Kindern erzählet werden, dadurch sie an allerhand Vorurteil und Aberglauben verleitet, auch öfters zu vielen bösen Neigungen gleichsam zugestimmet werden."
Das Märchen verleitet also aus aufklärerischer Sicht zu Vorurteilen und Aberglauben. Hierzu sollte man festhalten, dass dieses Zitat deutlich vor der ersten Märchensammlung der Brüder Grimm aus dem Jahr 1812 veröffentlicht wurde, also auch deutlich vor der Zeit der Märchenbuchverbreitung. Die Kritik bezieht sich also nicht auf das Märchen, wie wir es heute kennen, sondern auf das mündlich erzählte, das durchaus als beängstigendes Mahnmärchen daherkommen konnte.
Anhaltspunkte für eine solche Märchentradition findet man noch in "Rotkäppchen": Die moralische Auflösung des Märchens jedenfalls ist recht fragwürdig. Da sagt Rotkäppchen in einem Selbstgespräch: "Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat." Dabei muss man doch festhalten, dass ihr jenseits des Weges nichts passiert ist. Auf dem befohlenen Weg jedoch gab es gleich zwei Übergriffe: Sie wurde vom Wolf angesprochen. Und im Haus der Großmutter, das sie aufsuchen sollte, wurde sie sogar vom Wolf gefressen. Der Knackpunkt, egal in welche Richtung man das Märchen deutet, ist vor der pädagogische Vorschlaghammer vom Gehorsam den Eltern gegenüber. Das Märchen (in einer solchen Form) will nicht zum Nachdenken anregen, sondern dem zuhörenden Kind Antworten eintrichtern. Eine Entwicklung von Vernunft im Sinne der Aufklärung ist so sicherlich nicht zu erreichen. Wobei sich die Aufklärer in ihrer Kritik vor allem auf das damals sehr verbreitete Ammenmärchen bezogen. Heute sind Volks-, Kunst- und Moderne Märchen über diesen Zweifel weitestgehend erhaben.
Schön ist jedoch, dass jemanden gibt, der das Märchen im Allgemeinen und "Rotkäppchen" im Besonderen mit den aufklärerischen Idealen versöhnt, auch wenn Christian Wolff dies leider nicht mehr mitbekommen hat. Peter Rühmkorf (1929-2008) veröffentlichte 1983 sein Buch "Der Hüter des Misthaufens - aufgeklärte Märchen", das unter anderem "Rotkäppchen und der Wolfspelz" enthält.
Anmerkung am Rande: Dass der böse Wolf sinnbildlich Christian Wolff als Märchenkritiker darstellen sollte, darf bezweifelt werden.