Samstag, 27. Dezember 2008

Das Spinnrad

Die alten Volksmärchen wurden über hunderte von Jahren mündlich weitererzählt, eh sie von Sammlern wie den Brüdern Grimm und anderen aufgeschrieben wurden. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Märchen dabei immer wieder verändert und weiterentwickelt haben. Es ist wie bei dem Spiel "Stille Post". Dass die Brüder Grimm die Märchen gesammelt und aufgeschrieben haben, war auf der einen Seite ein Segen. Auf der anderen wurde dadurch aber auch verhindert, dass sie sich weiterentwickeln konnten, denn heute werden die Märchen wohl kaum noch frei erzählt, sondern aus den Grimm-Büchern vorgelesen. Die deutschen Volksmärchen sind statisch geworden.

Einer Weiterentwicklung der Märchen wäre vielleicht das Spinnrad zum Opfer gefallen. Das Spinnrad ist ein mechanisches Gerät, mit dessen Hilfe man Fäden jedweder Art herstellte. Es wurde traditionell von Frauen genutzt, den Spinnerinnen. Während verheiratete Frauen dies zuhause in der Familie taten, trafen sich unverheiratete Frauen in sogenannten Spinnstuben, um gemeinsam der Handarbeit nachzugehen. Während des Spinnens wurde sowohl in den Familien als auch in den Spinnstuben viel erzählt. Daher stammen auch die Begriffe "flachsen" (ursprünglich: "Fasern aus Flachs herstellen") und spinnen (ursprünglich: "Fäden herstellen"), die umgangssprachlich so etwas bedeuten wie "Unsinn erzählen" oder auch "Märchen erzählen". Die Erzählungen der Seeleute nennt man "Seemannsgarn". Zudem kennt man es, wenn jemand "den Faden verliert", "alle Fäden in der Hand hält", oder wenn eine Geschichte keinen "roten Faden" hat. Somit ist das Spinnrad auch ein Symbol für das Geschichtenerzählen.

Seit 1785 wurde das Spinnen industrialisiert. Jedoch sollte noch Zeit vergehen, eh die Spinnmaschinen technisch immer besser wurden, und eh das manuelle Spinnen am Spinnrad nach und nach zu überflüssiger Handwerkskunst wurde. Die Brüder Grimm sammelten ihre Märchen Anfang des 19. Jahrhundert und veröffentlichten ihren ersten Märchenband im Jahr 1812, zu einer Zeit also, in der Spinnräder noch weit verbreitet waren. So wundert es nicht, dass das Spinnrad in einigen Märchen eine zentrale Bedeutung hat. In "Frau Holle" fällt eine Spindel (ein kleines Spinnrad) in den Brunnen, in Dornröschen sticht sich die Titelfigur an einer Spindel. In Rumpelstilzchen soll an einem Spinnrad Stroh zu Gold gesponnen werden. Und dann gibt es da noch die Märchen "Die faule Spinnerin" und "Die drei Spinnerinnen". Die bekannte Märchensammlung der tschechischen Märchensammlerin Božena Němcová heißt sogar "Das goldene Spinnrad".

Heute sind handwerkliche Tätigkeiten kaum noch üblich, und Spinnstuben sind es schon gar nicht. Die Industrie hat dem Menschen alles abgenommen. Da wundert es nicht, dass in zwei Drittel aller Familien in Deutschland keine Geschichten mehr vorgelesen oder erzählt werden. Das Spinnrad ist aus den Wohnstuben und das Spinnen aus dem Repertoire möglicher Tätigkeiten gewichen. Was nun statt dessen hätte Teil der Märchen werden können, ist sehr ungewiss. Und so ist es vielleicht doch gut, dass die Brüder Grimm die Märchen aufgeschrieben haben. Wer weiß, ob sie die immer weiter sich entwickelnde Industrialisierung überhaupt hätten überleben können.